Interview mit der russischen anarchistischen Zeitung "Autonomist", veroeffentlicht von Autonomous Action


A - I N F O S N E W S S E R V I C E http://www.ainfos.ca/ ________________________________________________

> 1) Ein paar Worte zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Tschechien.

Die tschechische ArbeiterInnenklasse erlebte ein schwieriges Stadium der kapitalistischen Entwicklung. Eine Wirtschaftskrise, die 1997 anfing, beendete eine Phase, in der eine geschuetzte nationale kapitalistische Wirtschaft aufgebaut wurde und hat die Integration der tschechischen Wirtschaft in das globale kapitalistische System beschleunigt. Das bedeutet natuerlich, dass die traditionellen Industrien bankrott gehen und die Arbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen ist. Die tschechischen Kapitalisten in Noeten haben beschlossen, den "russischen Weg" zu gehen und ihren ArbeiterInnen ueber Monate keine Loehne ausgezahlt. Zum Beispiel waren letztes Jahr Weihnachten 130.000 ArbeiterInnen ohne Einkommen. Der oeffentliche Sektor leidet unter Geldmangel. Zehntausende EisenbahnarbeiterInnen und StahlarbeiterInnen sind gefaehrdet.

Im politischen Zusammenhang hat dieses neue oekonomische Stadium eine Phase der rechten Regierungen abgeloest, die eng mit den tschechischen Industriellen und Bankiers verbunden waren. Eine neue sozialdemokratische Regierung ist seit 1998 im Amt und seitdem einige schmerzhafte neoliberale Massnahmen eingefuehrt.

> 2) Erzaehl uns etwas ueber den Anarchismus in deinem Land.

In der tschechischen Republik hatte der Anarchismus eine vergleichsweise starke Tradition seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber diese Tradition wurde von den Leninisten seit 1925 zerstoert und begraben. Nach 1989 musste die tschechische anarchistische Bewegung von vorn anfangen. Ihre Gruendung war spontan, aber es hat lange gedauert, bis sie ueber gegenkulturelle Aktivitaeten hinausgewachsen ist und eine wirkliche organisatorische Form mit politischen Inhalten annahm.

Jetzt gibt es im Grunde drei verschiedene anarchistische Organisationen in unserem Land. Erstens gibt es die Tschechoslowakische Anarchistische Foederation, die eine ****"synthetist" Organisation ist. Sie scheint jetzt ziemlich schnell zu verfallen. Zweitens gibt es die Foederation der Sozialen AnarchistInnen, die tschechische Sektion der IWA/AIT mit cirka 30 Mitgliedern und ziemlich reger Publikationstaetigkeit. Und drittens gibt es die Organisation der Revolutionaeren AnarchistInnen - SOLIDARITA, der ich angehoere. Wir haben cirka 12 Mitglieder und 50 SympathisantInnen und veroeffentlichen eine Zeitung, die "Solidaritaet". Wir geben auch mehrere Veroeffentlichungen ueber den Anarchismus heraus, sind aber hauptsaechlich in Arbeits- und anderen Kaempfen aktiv.

> 3) Wir haben von HausbesetzerInnen und AntifaschistInnen in Tschechien gehoert. Was kannst du uns dazu erzaehlen?

Ja, es gibt immer noch zwei besetzte Haeuser in Prag. Zum Zeitpunkt der Besetzung waren sie mindestens in einem gewissen Ausmass politisch, aber jetzt sind sie hauptsaechliche Orte kultureller Aktivitaeten. Die tschechischen AntifaschistInnen haben sich in der Anti-Faschistischen Aktion (AFA) organisiert. Die Entwicklung ihrer politischen Vorstellungen ist noch nicht abgeschlossen, aber sie sind mehrheitlich anarchistisch, also ist es sehr wahrscheinlich, dass die AFA eine libertaere revolutionaere antifaschistische Gruppe wird, die den Leninismus bewusst zurueckweist und bekaempft.

> 4) Wie sieht es mit dem Klassenkampf aus? And how working class struggle is going?

Wie ich schon sagte, die ArbeiterInnenklasse befindet sich jetzt in einer sehr schmerzhaften Phase. Vor einigen Monaten brachen groessere Arbeitskaempfe aus gegen die Nichtzahlung von Loehnen und gegen Massenentlassungen. Zuerst gingen diese Kaempfe von den Gewerkschaften aus, aber wegen der absolut pro-kapitalistischen Haltung der Gewerkschaftsfuehrung kamen sie ueber Demonstrationen, Protestversammlungen, Streikwarnungen und einem einstuendigen Warnstreik praktisch nicht hinaus. Die Gewerkschaftsbuerokraten kaempften auch nur fuer finanzielle Hilfen fuer einige der in Schwierigkeiten geratenen Firmen, aber nicht fuer Arbeitsplaetze und Loehne, die fuer die ArbeiterInnen die Schluesselfragen waren.

Eine grosse Unzufriedenheit unter den Gewerkschaftsmitgliedern an der Basis und bei den nichtorganisierten ArbeiterInnen in den Firmen fuehrte zu einer Reihe spontaner Proteste und Versuche zur Selbstorganisation. Ein Muster fuer die Spontaneitaet der ArbeiterInnenklasse und fuer die Selbstorganisation waren die Bergleute [...], die nicht nur ihre Bosse, sondern auch die Gewerkschaftsbuerokratie angriffen. Bergleute von der Kohinoor-Mine bildeten das erste von der Gewerkschaftsbuerokratie unabhaengige Streikkomitee und konnten auf diese Weise ihre oertlichen Gewerkschaftsvorsitzenden erfolgreich radikalisieren. Sie haben auch den ersten Besetzungsstreik in unserem Land durchgefuehrt. Dadurch haben sie die ArbeiterInnen bei CKD DS inspiriert, die spontan Streikposten vor den von Riot-Polizei geschuetzten Ministerien bildeten.

Bei diesen Beispielen konnte ORA-SOIDARITA ihr Aktionsprogramm fuer ArbeiterInnenkaempfe weiterentwickeln und wir haben bei zwei weiteren Arbeitskaempfen interveniert. Wir waren wenigstens teilweise erfolgreich. In zwei Fabriken wurden von den aktivsten ArbeiterInnen ArbeiterInnenaktionsgruppen (AAG) gegruendet. In einer der beiden, bei denen die AAG sehr stark von unseren Vorstellungen beeinflusst waren, versuchten sie, ein autonomes Streikkomitee zu waehlen und cirka 1000 ArbeiterInnen nahmen an einer Vollversammlung teil, die von den AAG einberufen worden war. Leider wurde dieser Versuch von einer Allianz des Managements und der Gewerkschaftsfuehrung unterdrueckt. Trotzdem hatten Management, Gewerkschaftsbuerokratie und sogar die Regierung Angst vor dieser Aktion und beschlossen daher, die ArbeiterInnen zum Schweigen zu bringen, indem sie ihre Forderungen erfuellten. Der Vorsitzende der groessten Gewerkschaftsfoederation warnte andere davor, diesem Beispiel vielleicht zu folgen, er wuerde dies nicht unterstuetzen und meinte, "Anarchie hat in unserem Land keinen Platz".

In der zweiten Fabrik organisierten die AAG und ORA-SOLIDARITA eine gemeinsame Demo von cirka 300 ArbeiterInnen und mehrere erfolgreiche Versammlungen. Aber da dieser Konflikt schon zu lange dauerte und weil auch der Multi, dem diese Fabrik gehoert, offiziell Bankrott erklaerte, wurden viele ArbeiterInnen demoralisiert und suchten neue Arbeitsplaetze.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es weitere Kaempfe geben wird und wir hoffen, dass wir da noch mehr dafuer tun koennen, die anarchistische Vorstellungen von direkter Aktion und direkter Demokratie populaer zu machen.

> 5) Erzaehl uns von deiner Gruppe. Was heisst fuer euch Plattformismus?

Die ORA-SOLIDARITA ist eine politisch revolutionaere Organisation. Das heisst, dass wir nicht vorgeben, eine "revolutionaere" Gewerkschaft zu sein und auch keine werden wollen. Wir sind einfach eine Organisation von AnarchistInnen, die ihre Kraefte vereinen, um wirtksamer anarchistische Ideen in allen Arbeitskaempfen propagieren zu koennen und dadurch zu versuchen, eine selbstverwaltete ArbeiterInnenbewegung aufzubauen, die auch direkter Aktion und einem libertaeren Anti-Kapitalismus basiert.

Unsere Politik begruendet sich auf solche Dokumente wie die "Organisatorische Plattform der Libertaeren Kommunisten" von Nestor Makhno, Peter Arshinov und Ida Mett, einem Manifest der Gruppe Freunde von Durruti und dem "Manifest des Libertaeren Kommunismus" des beruehmten franzoesischen Anarcho-Kommunisten Georges Fontenis. Diese bilden die Grundlage einer sogenannten "plattformistischen" Tradition innerhalb des Anarchismus. Natuerlich sehen wir diese Schriften nicht als das letzte Wort zur Entwicklung der anarchistischen Theorie an, sondern eher als Ausgangspunkt.

Im grossen und ganzen heisst Plattformismus fuer uns, dass eine anarchistische Organisation ein gemeinsames revolutionaeres Programm braucht, um effektiv zu sein, und eine gemeinsame revolutionaere Strategie, und ihre Mitglieder muessen einer freiwilligen Selbstdisziplin zustimmen. Viele AnarchistInnen glauben, dass das zu einer neuen zentralistischen Partei fuehrt, aber das ist ueberhaupt nicht so. Eine plattformistische Organisation ist eine Foederation, die auf direkter Demokratie basiert und alle politischen Initiativen und Aktivitaeten kommen von unten. Die Mitglieder koennen ihre eigenen Vorstellungen und Kritikpunkte zu allen Beschluessen und Taktiken haben, aber wenn sie diese ausserhalb der Organisation verbreiten, muessen sie klarstellen, dass dies ihre eigenen Vorstellungen sind und nicht die der Organisation. Wenn eine anarchistische Organisation effektiv sein will, kann sie einfach nicht mit zwei Stimmen sprechen, das ist nur verwirrend fuer die Leute, die [nicht erkennen koennen] wofuer wir einstehen und wofuer nicht.

> 6) War die ORA-SOLIDARITA eine Gruppe, die das mitorganisiert hat, dass Madlein Albright mit Eiern beworfen wurde?

Nicht direkt. Das war eine spontane direkte Aktion von zweien unserer Mitglieder, die aber von der gesamten ORA-SOLIDARITA von ganzem Herzen unterstuetzt wird. Es sollte ein Protest gegen den US-Imperialismus sein, der sich nicht nur in den Kriegen gegen Irak und Serbien manifestiert, sondern auch in transnationalen Institutionen des globalen Kapitalismus wie des IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation. Diese direkte Aktion war bei den tschechischen ArbeiterInnen sehr populaer und erhielt viel Aufmerksamkeit von den Medien, wodurch wir die Oeffentlichkeit mehr auf die bevorstehenden antikapitalistischen Proteste gegen IWF und Weltbank in Prag aufmerksam machen konnten.

> 7) Erzaehl uns was ueber die Rolle der Solidarita bei den Aktionen gegen den IWF.

Zuerst war die ORA-SOLIDARITA dafuer, dass sich die tschechischen KlassenkampfanarchistInnen einer Dachorganisation anschliessen. Wir hofften, dass wir zusammen in der Lage sein wuerden, die so antikapitalistisch und libertaer wie moeglich zu gestalten. Aber leider standen wir bei diesem Versuch allein und wurden nur von einigen GenossInnen der Tschechoslowakischen Anarchistischen Foederation unterstuetzt. Trotzdem schlossen sich mehrere Mitglieder von ORA- SOLIDARITA der Initiative gegen Oekonomische Globalisierung (INPEG) an, um dort Raum fuer revolutionaere anarchistische Vorstellungen und Organisationsmethoden zu oeffnen.

Daneben rief ORA-SOLIDARITA zu einer unabhaengigen und vereinten Klassenkampfmobilisierung fuer die S26-Demos in Prag unter der ArbeiterInnenklasse auf. Leider waren wieder nur wenige lokale AnarchistInnen, Radikale und libertaere AntifaschistInnen an entsprechenden praktischen Aktionen interessiert. Wir versuchten auch, internation AnarchistInnen zu mobilisieren, entweder zu den Protesten nach Prag zu kommen oder zu Hause eigene Proteste zu organisieren. Wir baten die AnarchistInnen, die nach Prag kommen wollten, einen "Schwarz-Roten" revolutionaeren antikapitalistischen Block zu bilden.

In unserem Land organisierten wir anarchistische Infostaende, verbreiten Argumente dafuer, dass die ArbeiterInnen sich den Protesten anschliessen sollten, verteilten Sonderausgaben unserer Zeitung vor den Fabriken, in denen wir bereits einige Anerkennung hatten und organisierten internationalen Druck auf die tschechischen Gewerkschaften, sich dem Protest anzuschliessen. Mindestens in zwei grossen Fabriken wurden wir von den ArbeiterInnen unterstuetzt, die eine kollektive Teilnahme der Gewerkschaften an den S25 von ihren Gewerkschaftsbossen forderten. Die lehnten natuerlich ab.

Ich wuerde sagen, dass die wenigen tschechischen AnarchistInnen von allen Organisationen, die sich an diesen Sachen beteiligten, sehr viel erreicht haben. Es gab ein vereintes - wenn auch etwas disorganisiertes - anarchistisches Kontingent von cira 4-5000 Leuten bei den S26, die die IMF/ Weltbank-Konferenz sehr effektiv stoerten. Es schlossen sich auch bis zu 2000 junge tschechische ArbeiterInnen, Arbeitslose und StudentInnen der Prager Demo an. Und dank der internationalen anarchistischen Organisationsbemuehungen und der direkten Aktionen waren wir in der Lage, die Trotzkisten und Stalinisten bedeutungslos zu machen, wenn nicht sogar die "Antiglobalisierungs"-Reformer des Kapitalismus aus den verschiedenen NGOs.

http://flag.blackened.net/revolt/inter/groups/solidarita/interview_oct00.html

Uebersetzung: FdA Hamburg, e-mail: i-afd_2@anarch.free.de


Part of Solidarita's web pages